Mehr Möglichkeiten zur Kommunikation und Informationsbeschaffung sind die Chancen der digitalen Medien auch für Menschen mit Behinderung, die in den Wohngemeinschaften der Diakonie Kulmbach leben. Eine Kontrolle der Inhalte ist schwierig, eine Begleitung und die Sensibilisierung für die Gefahren dagegen notwendig. Wie die Fachkräfte auf die unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten der Menschen eingehen.
Ob chefkoch.de, Whatsapp oder die Plattform TikTok: Die Digitalisierung, insbesondere die Nutzung von Smartphones und Apps, sind längst auch in den Wohngemeinschaften für Menschen mit Behinderung angekommen. Vor allem in der Wohngemeinschaft Oberhacken, in der zwölf Frauen und Männer mit Behinderung leben, ist das Smartphone allgegenwärtig. „Das liegt viel an der Generation“, verrät Gruppenleiter Adrian Schiepert mit Blick auf das Alter der Bewohnerinnen und Bewohner. Viele von ihnen sind zwischen 18 und 30 Jahre alt. Fast alle besitzen und nutzen ein Smartphone, die anderen ein älteres Handy. Aufgrund ihrer hohen Selbstständigkeit, die bald in eine ambulant betreute Wohnform münden soll, funktioniert auch das Prepaid-System im Alltag gut.
Smartphone zur Kontaktpflege
Gemeinsam ist ihnen allen, dass der Feierabend nach ihrem Dienst in der Werkstatt für Behinderte in Melkendorf (Lebenswerk Bayreuth) oftmals am Kaffeetisch im Gruppenraum der Wohngemeinschaft beginnt „und alle erstmal ihr Handy rausholen“, beobachtet der Gruppenleiter. Sie lesen die neuesten Posts auf der Plattform TikTok, schreiben Nachrichten, posten Bilder oder scrollen durch Facebook. Vorrangig wird Kontaktpflege zu den Partnerinnen, Partnern und Freunden betrieben. Für Absprachen und wichtige Nachrichten nutzen die Bewohnerinnen und Bewohner zudem ihr Smartphone auch um mit den Fachkräften zu kommunizieren.
Intensive Beobachtung und Beratung
Das Wissen um die Gefahrenquellen von Nachrichtendiensten und sozialer Netzwerken wie etwa Datenschutzlücken, Cybermobbing oder sexuelle Belästigung ist für die Fachkräfte allgegenwärtig. Doch eine vollständige Kontrolle der Inhalte ist nicht möglich. „Das würde die Privatsphäre der Bewohnerinnen und Bewohner zu sehr angreifen.“ Umso mehr sind aufmerksame Beobachtung und regelmäßige, intensive Beratung im Alltag für Adrian Schiepert und sein Team wichtig, ebenso Vertrauen. „Denn dann kommen die Menschen auch auf uns zu, wenn sie ein Problem haben.“ So auch mit der Bedienung des Geräts oder den Inhalten einer App. In vielen Gesprächen sensibilisieren die Fachkräfte für Gefahrenquellen, aber auch Themen wie das Privatleben, Beleidigungen und Konfliktsituationen.
Doch auch die Nutzungsdauer der Geräte müssen Adrian Schiepert und sein Team im Blick behalten: „Da, wo sich Bewohnerinnen und Bewohner darin zu verlieren drohen, bieten wir Alternativen und geben Anstöße. Allein das reicht schon. Dann kommen von vielen Ideen, was sie stattdessen machen könnten: spazieren gehen, etwas spielen, Musik hören und vieles mehr.“
Recherche für Rezepte und Freizeitaktivitäten
Doch auch für die Gemeinschaft spielt Digitalisierung eine wichtige Rolle: Für gemeinsame Kochaktionen suchen die Frauen und Männer online gemeinsam Rezepte aus und bereiten diese beispielsweise mit Hilfe eines Videos und Musik zu.
Ähnlich wird das Gruppentablet in einer Wohngemeinschaft in Melkendorf genutzt. Zwar lassen sich viele der Frauen und Männer, die einen höheren Betreuungsbedarf haben, von Gerichten und Bildern aus Zeitschriften inspirieren, doch werden die Rezepte oft online ausgewählt – eine möglichst einfache Zubereitung berücksichtigend. „Manche Bewohnerinnen und Bewohner kommen mit dem Switchen auf dem Tablet gut klar, andere weniger“, verrät Gruppenleiter Julian Kießling. Das Gerät wird ebenso zur Auswahl von Freizeitaktivitäten genutzt: Die Recherche zu Ausflugszielen etwa erfolgt gemeinsam mit den Frauen und Männern am Tablet mit Hilfe vieler Bilder.“ So erhalten sie einen ersten Eindruck vom Weißenstädter See, der Stadt Bayreuth oder dem Trimm-Dich-Pfad. Auch Bastelvorlagen werden auf diese Weise genutzt.
Besondere Anforderungen der Geräte
Ein eigenes Smartphone besitzt hier niemand, das Bedürfnis sei gering. Die Frauen und Männer sind zwischen 50 und 80 Jahre alt, nur wenige können lesen und schreiben. Dagegen nutzen einige Seniorenhandys, vor allem um mit nahen Angehörigen zu telefonieren. Eine engmaschige Begleitung durch die Fachkräfte ist jedoch notwendig: Sie unterstützen beim Kauf des Geräts in Einzelhandelsgeschäften vor Ort, „damit die Bewohnerinnen und Bewohner verschiedene Modelle auch in die Hand nehmen können und die Tastengröße stimmt“, verrät Julian Kießling. Anschließend erklären sie die Funktionsweise und speichern etwa die wichtigsten Telefonnummern als Kurzwahlfunktion ein. „Wir moderieren, erklären und leben den Umgang mit den neuen Medien aktiv vor.“ Je nach kognitiven Fähigkeiten der Frauen und Männer gelingt die Benutzung selbstständig oder mit Hilfestellung.
Digitalisierung als Chance auf mehr Teilhabe
Mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderung bringt die Digitalisierung in jedem Fall mit sich: Die neuen Medien und der leichte Zugang zu ihren Inhalten können individuelle Interessen gut bedienen: „Für eine Bewohnerin und Pferdeliebhaberin suchen wir zum Beispiel oft Dressur-Videos im Internet heraus, die sie dann in Ruhe in ihrem Zimmer anschauen kann“, so Julian Kießling. Auch die Apps auf dem Gruppen-TV-Gerät und die Mediatheken bieten ein reichhaltiges Programm zur Unterhaltung und zum Lernen.
Auch die Chance zur Mitgestaltung ist hervorzuheben. Ein Mann aus der Wohngemeinschaft Oberhacken etwa nutzt einen Instagram-Kanal gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin zur Präsentation von Fotografien der Stadt oder Lost Places.
Doch die Chance auf mehr Information und Kommunikation, ergo „Normalität“, birgt noch Schatten: Mehr barrierefreie Seiten, Vorlese-Funktionen, einfache Sprache und Piktogramme auf beliebten Homepages sind Forderungen von Julian Kießling. „Das beginnt bei den Fußballergebnissen und endet bei den Nachrichten.“
Mehr zu den Wohngemeinschaften der Diakonie Kulmbach unter diakonie-kulmbach.de/wohngemeinschaften/